Misswirtschaft und Liederlichkeit

Im Staatsarchiv des Kantons Zürich bin ich auf ein interessantes Dossier über die Familie August Mattmüller-Imboden gestossen. Die Familie wurde anfangs der 1930er-Jahre von der Armenpflege des Fürsorgeamtes Winterthur betreut. Nachstehend einige Hintergrundinformationen zur Entwicklung der Sozialhilfe in der Schweiz und anschliessend der Fall Mattmüller-Imboden.

 

Armutspolitik:
Vom Heimatortprinzip zum Wohnsitzprinzip

Bis Ende des 19. Jahrhunderts kümmerten sich vor allem die Familie oder die Kirche um die Armen. Erst mit dem Aufkommen der Arbeiterbewegung, der Industrialisierung und der Urbanisierung ging die Armutsbekämpfung (dazu gehörten die Risiken Krankheit, Unfall, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Alter und Tod) in die Zuständigkeit der öffentlichen Hand über.[1] Dabei galt das Heimatortprinzip:

Der Heimatkanton musste für die Unterstützung der Armengenössigen aufkommen. War er dazu nicht bereit, konnte der Wohnkanton – gemäss Bundesverfassung von 1874 – den Betroffenen die Niederlassungsbewilligung entziehen und die Heimschaffung, d.h. die Überstellung an die Heimatgemeinde, anordnen. Erst 1975 stimmte das Schweizer Volk dem Wechsel zum Wohnsitzprinzip zu. Erst jetzt erhielten unterstützungsbedürftige Schweizerinnen und Schweizer die volle Niederlassungsfreiheit. Auch nach dem neuen Gesetz konnten die Wohnkantone die Kosten für die Unterstützung während einer Übergangszeit von den Heimatkantonen zurück fordern. Erst 2013 wurde die gänzliche Abschaffung beschlossen.[2]

 

Konkordat betreffend wohnörtliche Unterstützung

Der Grundsatz der wohnörtlichen Unterstützung setzte sich in der Schweiz ab Beginn des 20. Jahrhunderts langsam durch. Die während des 1. Weltkrieges geltende interkantonale Vereinbarung für wohnörtliche Notunterstützung wurde nach dem Krieg durch das Konkordat betreffend wohnörtliche Unterstützung abgelöst. Bis 1927 traten die Kantone Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Solothurn, Basel-Stadt, Appenzell-Innerrhoden, Graubünden, Aargau und Tessin bei. Nach einer Revision des Konkordates wurden auch die Heimatkantone an der Finanzierung beteiligt. Jetzt trat auch der Kanton Zürich dem Konkordat bei (1929). Ab 1967 galt das Konkordat für alle Kantone.

Die Unterstützung ausserkantonaler Bedürftiger ging aber nur teilweise – je nach Aufenthaltsdauer – an den Wohnkanton über. Es galten nachstehende Karenzzeiten:[3]Karenzzeiten Konkordat betreffend wohnörtliche Unterstützung

 

Das Konkordat am Beispiel der Familie August Mattmüller-Imboden, Bürger von Basel [4]

Das erste Schriftstück im Dossier wurde am 8. Februar 1930 von der Armenfürsorge Winterthur erstellt und war an die Direktion des Armenwesens des Kantons Zürich gerichtet, mit Weiterleitung an das Bürgerliche Armenamt Basel „zur Kenntnisnahme und Weiterbehandlung im Sinne des Konkordates betreffend wohnörtliche Unterstützung“.

In diesem vorgedruckten Formular heisst es u.a., dass die Familie anfangs Oktober 1927 von Interlaken zugezogen, der „Unterstützer“ Kundenschneider ohne genügenden Verdienst sei, die Ehefrau mit Waschen und Putzen einen Verdienst habe, die Schulden für Möbel Fr. 300 betrügen, es keine „hülfsfähigen Verwandte“ gäbe, die Unterstützungsbedürftigkeit vorübergehend und die erforderliche Unterstützung von Fr. 50 vorläufig einmalig sei, evtl. später noch ein Zuschuss nötig würde. Die Kostenteilung sah wie folgt aus: Heimatort ¾ und Wohnort ¼.

Es blieb nicht beim einmaligen Zuschuss. In einem schriftlichen Gesuch vom 13.1.1932 schreibt August Mattmüller:

„Wie ich der Behörde bereits schon früher mitgeteilt habe besteht meine Kundsame meistens aus Arbeitern hiesiger Fabriken. Das Erträgnis aus diesen Aufträgen ist ziemlich klein, und nur die Masse macht bei mir das Einkommen aus, und so kam es bei Eintritt der Krise […], dass der Verdienst meist nur für das Leben resp. Unterhalt für mich und für meine Familie reichte, dann sollten noch Abzahlungen für Möbel gemacht werden, was auch nicht immer geschehen konnte. […] Nun sollte ich aber mit meiner Familie im Januar gelebt haben, aber es fehlt mir an Mitteln, da dieselben gänzlich ausgegangen sind, ebenfalls fehlt es an Brennmaterial. Frau und Kind fangen an zu kränkeln. Die Frau selbst sollte schon längst einen Arzt konsultieren, da uns aber die nötigen Mittel fehlen, waren wir auch nicht in der Lage, die hiesige Krankenkasse zu bezahlen. […] Es wird mir dieses Mal auch nicht möglich sein, den Mietzins Ende Monat zu entrichten, da ich gegenwärtig keine Stich Arbeit im Hause habe. In die Arbeitslosenversicherung kann ich als Selbständiger nicht eintreten, obwohl ich weniger verdiene als ein Fabrikarbeiter.“

Zum Schluss bittet August Mattmüller um eine grössere Unterstützung, damit wäre ihm über Vieles hinweggeholfen. Ob dieses Gesuch erfolgreich war, geht aus den Akten nicht hervor.

Im Dossier abgelegt ist ein weiteres Gesuch vom 18. August 1933, worin Mattmüller auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre hinweist, die zum schlechten Geschäftsgang beitrug. Zu finden sind auch drei „Konkordatliche Unterstützungsmeldungen“: Im Februar 1933 Fr. 50 für Unterhalt wegen gänzlicher Arbeitslosigkeit, im Dezember 1933 Fr. 100 für Miete und Unterhalt, da der Mann im Dezember nur Fr. 60 verdiente und im Januar 1934 Fr. 20 für Spezereien wegen ungenügendem Einkommen.

 

Ablehnung der konkordatlichen Mitbeteiligung ab 1. April 1934

Auf Grund von Klagen wurden die Verhältnisse der Familie durch einen Gewährsmann abgeklärt und anschliessend durch die Stadtpolizei geprüft (Hervorhebungen durch den Autor dieser Website).

Rapport der Stadtpolizei Winterthur
Polzeirapport Seite 1
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Polizeisrapport Seite 2

Diese Informationen führten dazu, dass die (wohnörtliche) Armenpflege Winterthur nicht mehr bereit war, ihren Anteil von einem Viertel gemäss Konkordat zu übernehmen. Sie teilte diesen Entscheid mit nachstehendem Brief via die Direktion des Armenswesen des Kantons Zürich dem (heimatörtlichen) Bürgerlichen Fürsorgeamt Basel mit.
Kündigung der Unterstützung

 

Wie ging es weiter?

Mit Brief vom 4. April 1934 ersuchte das Fürsorgeamt Basel, von weiteren Massnahmen abzusehen (gemeint war vermutlich der Entzug der Niederlassungsbewilligung, resp. die Heimschaffung an den Bürgerort) und kündigte die Überprüfung der Verhältnisse Mattmüllers durch einen ihrer Beamten an.

Im letzten Schriftstück des Dossiers vom 25. Mai 1934 bestätigte die Armenpflege Winterthur ihren Entscheid:
„Wir betrachten die Angelegenheit insoweit für erledigt, als wir ab 1. April die konkordatliche Mitbeteiligung in diesem Falle ablehnen und alle Kosten der Heimatgemeinde direkt verrechnen. Ein Beamter der heimatl. Behörde hat die Familie besucht.“

Ob die Familie Winterthur verliess und an ihren Heimatort Basel zog, geht aus dem Dossier nicht hervor.

 

Zeigten die Strafen im Kleinkindalter Auswirkungen im Erwachsenenleben?

Gemäss Polizeirapport wurde Söhnchen René, geb. 19.1.1929, als Fünfjähriger – und vermutlich schon früher – vernachlässigt und auch regelmässig geschlagen. Es wuchs in schwierigen Verhältnissen auf und kam auf die schiefe Bahn. Als 19-Jähriger verliess er die Eltern und verpflichtete sich für fünf Jahre bei der französichen Fremdenlegion. Sein schwieriger Lebensweg ist in einem separaten Kapitel nachzulesen.

 

Quellen
[1] URL: http://www.geschichtedersozialensicherheit.ch/risikogeschichte/armut/. Stand 2.8.2017.
[2] URL: http://www.geschichtedersozialensicherheit.ch/synthese/1975/. Stand 2.8.2017
[3] Peter Flisch: Begründung des Postulates zur wohnörtlichen Armenunterstützung. Rote Revue: sozialistische Monatsschrift, Band 25 (1946), Heft 5.
[4] Staatsarchiv des Kantons Zürich. Z 42.3890. URL: https://suche.staatsarchiv.djiktzh.ch/detail.aspx?ID=146630. Stand 2.8.2017